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Spotlight auf die Session „Interoperabilität“ beim 10. Deutschen Interoperabilitätstag Oktober 2025

KI meets Interoperabilität: Zwischen Struktur und Nutzen – was FHIR wirklich leistet

Auf dem Deutschen Interoperabilitätstag 2025 trafen sich Fachleute aus Standardisierung, Forschung und Industrie, um unter dem Motto „KI meets (or eats) Interoperabilitätsstandard“ über die Zukunft der Datennutzung im Gesundheitswesen zu diskutieren. Jetzt, wo LLMs Semantik verstehen können, entwickelte sich einer der lebhaftesten Sessions des DIT mit provokanten, kontroversen Thesen und Gegenthesen zur Überflüssigkeit bzw. Notwendigkeit von Interoperabilitätsstandards wie FHIR und SNOMED im Zeitalter von KI.

Co-Moderator der DIT-Session und HL7 Geschäftsführer Dr. Kai Heitmann sprach anschließend mit Simone Heckmann, Leiterin des HL7 Technischen Komitees „FHIR“, über das Thema, das derzeit viele bewegt: Wie viel Strukturierung und Kodierung brauchen wir wirklich – und wann wird sie zur Last?

Von der Codierung zur Sinnfrage

„Wir müssen diese Diskussion führen“, sagt Simone gleich zu Beginn. „Wie viel Strukturierung brauchen wir eigentlich – oder wann übersteigt der Aufwand für strukturierte, kodierte Daten den eigentlichen Nutzen?“

Mit dem Aufkommen von Large Language Models (LLMs) wie ChatGPT, die auch unstrukturierte Texte verarbeiten können, wird diese Frage brisanter. Wenn ein LLM klinische Freitexte verstehen kann – muss dann alles streng codiert sein? Oder ist Freitext in manchen Fällen „gut genug“?

FHIR ist kein Synonym für Struktur, sondern ein „zuhause“ für beide, Sätze und Kodes

Ein verbreitetes Missverständnis ist, dass der HL7 FHIR-Standard ausschließlich strukturierte Daten verlangt. Wer FHIR nutzt, muss automatisch alles codieren? Simone widerspricht:

FHIR wird häufig gleichgesetzt mit strukturierten Daten, aber das ist falsch. Der Standard sagt nicht, dass alles strukturiert sein muss.

Tatsächlich haben viele FHIR-Ressourcen kaum oder gar keine Pflichtfelder. Ein Patient-Ressource? Null Pflichtfelder. Eine Condition-Ressource? Genau ein Pflichtfeld, nämlich der Bezug zum Patienten.

Das zeigt: FHIR ist flexibel. Eine Ressource kann auch nur Freitext enthalten, solange sie kommunizierbar ist. Entscheidend ist nicht der Grad der Strukturierung, sondern die Interoperabilität – also die Möglichkeit, dass Systeme Daten abrufen und verstehen können. Das ist auch ein Erfahrungswert aus den zurückliegenden Dekaden von HL7, beispielsweise der Freitext bei CDA-Dokumenten, der eben auch als Konzept bei FHIR Einzug gehalten hat.

Verfügbarkeit schlägt Vollständigkeit und Perfektion

Das „F“ in FHIR steht für Fast – und das meint: Daten sollen zugänglich und abrufbar sein, im Kern schneller Zugriff und Verfügbarkeit.

Ob sie strukturiert oder unstrukturiert sind, steht zunächst nicht im Vordergrund. Denn solange Daten in abgeschotteten Silos („Datengräbern“) liegen, können weder statistische Algorithmen noch KI-Modelle ihren Wert entfalten.

Ein guter Befund ist einer, der da ist

In Deutschland, so Simones Kritik, werde oft versucht, erst den „perfekten“ Standard zu bauen, bevor man Daten überhaupt teilt. Doch wer auf „Perfektion“ wartet, könnte in der Konzeptphase steckenbleiben. Dazu gäbe es in der jüngsten deutschen E-Health-Geschichte eine Reihe von Beispielen.

„Perfektion“ könne zudem auch sehr teuer sein, und wenn sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis stark in Richtung Kosten verschiebe, müsse man sich eben fragen, ob der größte Teil des Nutzens nicht schon allein mit dem Verfügbarmachen der Daten (als Freitext) erzielt werden könne. Der erste Schritt müsse immer „Verfügbarkeit“ heißen – auch wenn die Daten zunächst nur als Freitext vorliegen.

Ihre Forderung: Verfügbarkeit zuerst, Strukturierung dort, wo sie echten Nutzen bringt oder zum Beispiel regulatorisch gefordert ist. Ein aktuelles Beispiel: sowohl in den Spezifikationen zum European Health Data Space als auch in Deutschland hat man sich Gedanken gemacht zum Entlassbrief, z. B. aus dem Krankenhaus. In vielen Ländern ist eine solcher „Brief“ eine textliche Zusammenfassung des Aufenthalts. Erste Priorität ist, diesen oft nur schwach strukturierten, in Abschnitten und Paragrafen unterteilten Bericht verfügbar und abrufbar zu machen. Erreicht man in dieser Stufe noch keine Kodierung, macht die iterative Einführung von Kodierungen z. B. bei Diagnosen und Medikamente viel Sinn, können sie dann doch vom Empfänger in das eigene System übernommen werden.

Die Kernbotschaft: Nicht alles muss strukturiert sein, aber alles muss verfügbar sein.

Pragmatisch vorgehen: verfügbar machen, dann optimieren

Der Vorschlag aus der Praxis:

  • Daten austauschbar machen, selbst wenn sie zunächst unkodiert sind
  • Pilotprojekte starten, um herauszufinden, wo kodierte Daten echten Mehrwert liefern
  • Schrittweise semantische Annotation dort einführen, wo sich Aufwand und Nutzen rechtfertigen. Hier wird in Zukunft KI sicherlich neue Möglichkeiten eröffnen, die semantische Annotation einfacher und verlässlicher zu gestalten.

Diese Denkweise entlastet Entwickler, erlaubt frühe Pilotierungen und fördert die Lernkurve im Umgang mit FHIR-Schnittstellen – besonders dort, wo KI bereits eingesetzt wird, um Inhalte aus Texten zu verstehen oder zu klassifizieren. Und bringt das „F“ in FHIR zurück 😉

Fazit: Interoperabilität bleibt der Schlüssel

Die zentrale Botschaft der Session lautet: Nicht jede Information muss perfekt kodiert sein – aber jede Information muss erreichbar sein.

Interoperabilitätsstandards wie HL7 FHIR sind das Rückgrat dieser Verfügbarkeit. Sie ermöglichen es, sowohl strukturierte Daten als auch Freitexte unter einem gemeinsamen Zugangspunkt nutzbar zu machen – für Menschen und Maschinen (sei es Statistikalgorithmen oder LLMs).

Der Fortschritt liegt nicht darin, alles zu kodieren, sondern Daten zugänglich zu machen. Und diese Zugänglichkeit ist der Schlüssel zur KI-gestützten Zukunft im Gesundheitswesen.

Take-Away des Tages

FHIR heißt: Die Daten sind verfügbar, abrufbar, nutzbar – ob nun als Kode oder als Freitext mit Sätzen und Wörtern.

Ein großes Dankeschön an alle Beteiligten der Session und an Simone Heckmann

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KI-Hinweis: Titelbild erzeugt durch KI